Es war ein Konzert – außergewöhnlich in jeder Hinsicht, ein einmaliges Ereignis.
Am 4. Juli 2005 war Thomas von uns gegangen.
Meine damalige Frau, Christine und ich waren Mitglieder im „Lucerne Festival Orchestras“, welches Claudio Abbado gegründet hatte.
Thomas und seine Frau Heidemarie waren gute Freunde von Claudio seit ihrer gemeinsamen Studienzeit an der „Wiener Musik Akademie“.
Wir animierten Heidi im August 2015 nach Luzern zu kommen. Claudio würde sich freuen, sie zu sehen. Er lud sie dann auch zum Konzert ein. So standen sich nach einer magischen Aufführung der 7. Symphonie von Gustav Mahler im Künstlerzimmer Heidi und Claudio einander gegenüber. Claudio war unfähig etwas zu sagen, auch er war tief berührt von Thomas’ Tod.
Dann plötzlich: "Wir machen ein Konzert für Thomas."
Das war der Auslöser.
Wir erstellten eine Liste von Künstlern mit denen Thomas eng befreundet war.
Mit dieser Liste gingen wir zu Christoph Lieben, dem damaligen Generalsekretär der Wiener Konzerthaus Gesellschaft.
Nach kurzer Überlegung: "Valentin, wenn Ihr all diese Künstler für das Gedenkkonzert gewinnen könnt, gebe ich euch den Großen Saal, wir tragen die Unkosten und führen das Konzert durch. Der Erlös der Eintrittsarten verbleibt bei Euch."
Die Idee war, die Künstler zu bitten auf ein Honorar zu verzichten, und ihre Unkosten aus den Einnahmen zu decken. Der Reinerlös sollte dem SOS Kinderdorf zugute kommen.
Nun begann das Abenteuer:
Der erste Künstler, den ich kontaktierte war Sir Simon Rattle. Ich kannte ihn persönlich kaum, wusste nur, dass er ein guter Freund von Thomas war. Am Tag vor Thomas’ Tod kam Simon mit seiner Frau Magdalena Kozená aus Prag um ihn noch einmal zu sehen. Gerhard Schulz, der anwesend war, erzählte uns sehr berührend von dieser letzten Begegnung. Ich erreichte Simon telefonisch in New York - sein erster Ausruf: "We miss him so much!“ Als ich dann zwischen "Maestro" und "Sir" herumstotterte sagte er: "Just call me Simon and I'll do everything for you."
Als nächster Thomas Quasthoff, auch er ein enger Freund von Thomas. Ihn kannte ich persönlich überhaupt nicht. Seine Antwort: "Herr Erben, nennen Sie mir den Termin und sollte ich da nicht frei sein, so komme ich - wenn irgend möglich - trotzdem."
Herr Quasthoff, wir können Ihnen aber kein Honorar anbieten. -
"Herr Erben, wollen Sie mich beleidigen?"
In der Folge kontaktierte ich die weiteren prominenten Musiker – Freunde von Thomas - die auf der „Wunschliste“ standen. Es war so berührend zu erleben, wie sie alle spontan ihre Bereitschaft erklärten.
Leider konnten wir – aus programmtechnischen Gründen - nicht alle einladen, die wir gerne dabei gehabt hätten.
Wir standen Anfang Oktober 2005. Sinnvollerweise sollte das Konzert in der Saison 2006/07 stattfinden.
Das Wiener Konzerthaus und die Großen der Musikszene planen ihre Termine mindestens zwei Jahre im Voraus. War es überhaupt denkbar, innerhalb Jahresfrist ein Datum zu finden an dem alle noch frei wären?
Das Wunder geschah, der 29. Oktober 2006 konnte festgesetzt werden. Nur Claudio Abbado musste noch bewegt werden, seine gesundheitlichen Ängste zu überwinden und die Sonne Sardiniens für einen Kurzbesuch im vielleicht schon kalten Wien zu verlassen.
Simon Rattle’s Mitwirkung war leicht zu programmieren, er ist ja "nebenbei" ein wunderbarer Pianist. Ich schlug ihm vor, mit uns den Variationensatz aus Schuberts Forellenquintett zu spielen. Jedoch er: "Valentin, that's too hard for me. I can play everything from Moderato down."
So entschieden wir uns für die Dumka aus Dvoraks Klavierquintett.
Mit Claudio war es schwieriger. Er war ja "nur" Dirigent.
Die Lösung: wir stellten ein Kammerorchester zusammen aus Freunden und Kollegen von Thomas Kakuska aus aller Welt, mit Abbado als Dirigent. Thomas Quasthoff würde Orchesterfassungen von Liedern von Franz Schubert singen, und – auf speziellen Wunsch von ihm Gustav Mahlers "Ich bin der Welt abhanden gekommen".
Anruf bei Claudio, ob er einverstanden ist.
Der Kontakt mit Abbado lief nur über das Sekretariat von seinem "Orchestra Mozart" in Bologna. Er rief allerdings immer prompt zurück: „Für Mahler brauchen wir Englisch Horn. Wir nehmen Dominik Wollenweber von den Berliner Philharmonikern, er ist der Beste."
Tja., "wir nehmen" war gut gesagt. Vom Engel des Lucerne Festival Orchestras, Christiane Weber, bekomme ich seine Telefonnummer: Er sagt zu und verzichtet auf eines seiner seltenen freien Wochenenden mit seiner Familie.
Soweit schien alles gut zu laufen. Sogar eine Probe mit Simon Rattle konnte organisiert werden - wohl gemerkt: Eine!
Im Zeitraum eines ganzen Jahres fand sich 1 Stunde, wo das Alban Berg Quartett und Simon Rattle sich treffen konnten: Am 5. Mai von 12 - 13 Uhr in der Berliner Philharmonie im Zimmer des Chefdirigenten, das einstmals Herbert von Karajan vorbehalten war...
Im März 2006 las ich in einer Vorschau der Berliner Philharmonie, dass an drei aufeinanderfolgenden Abenden das Requiem von Brahms angesetzt war. Bariton, Thomas Quasthoff, am Pult Sir Simon Rattle. Datum 26., 27. und 28. Oktober. (Unser Konzert sollte am 29. Oktober stattfinden!!)
EMI würde die Aufführungen mitschneiden und für den Vormittag des 29. war ein Korrekturtermin angesagt. Dass Simon erst am Sonntagnachmittag nach Wien anreisen können würde, stellte kein großes Problem dar, Zeit für eine kurze Anspielprobe hatten wir noch.
Wenn jedoch auch Quasthoff erst am Nachmittag käme – die Orchester Lieder ohne Probe - undenkbar. Das Konzert ohne die Lieder und damit auch ohne Claudio Abbado, ebenso undenkbar. Immerhin war er der Auslöser des Projektes gewesen.
Ich teilte Quasthoff etwas mutlos meine Bedenken mit. Er: "Herr Erben, ich bekomme meinen Part im Requiem mit den drei Aufführungen in die Kiste und komme am Sonntag Vormittag nach Wien. Am Nachmittag haben wir dann die Probe."
Dennoch: Für das zusammengestellte Orchester würde eine einzige Probe nicht ausreichen. Es wäre unverantwortlich und Abbado würde es nicht akzeptieren.
Deshalb waren auch die drei Tage vor dem Konzert für Proben geplant. Anruf in Bologna – Claudio ruft zurück: "Kein Problem, wir organisieren eben einen anderen Sänger für die Proben."
Ich: "Ja, Claudio."
Da saß ich nun. Wie soll ich einen guten Sänger finden, der Abbados Ansprüchen genügt, das Repertoire kennt und bereit ist, die Proben zu singen um sich dann für das Konzert zu verabschieden. Ich rufe meinen Freund Helmut Deutsch an. Als genialer Liedbegleiter und Pädagoge kennt er die Gesangsszene wie kein anderer.
Und wieder geschah ein Wunder: Michael Nagy, ein junger hervorragender Sänger erklärte sich bereit. Er sang die Proben mit seinem großen Talent und höchstem künstlerischen Einsatz, als sei es eine Aufführung. Wir alle können ihm nicht genug dankbar sein!
Die Zeit verstrich, der Termin rückte näher und unsere Aufregung stieg. Zehn Tage nach der Konzertankündigung war der große Saal des Wiener Konzerthauses bereits ausverkauft gewesen. Das Büro des Konzerthauses mit Annette Mangold an der Spitze organisierte alles. Ein Generalstabsplan für die Proben, die Abwicklung des Konzertes samt Auf - und Abbau zwischen den Programmpunkten und die Aufteilung der Garderoben für die Mitwirkenden waren erstellt, ebenso die Hotelreservierungen usw.
Immerhin waren es insgesamt 54 Musiker.
Sogar ein Sponsor für das anschließende Dîner im Schubertsaal des Konzerthauses konnte gewonnen werden.
Die Firma Schlumberger spendete den Sekt.
Anfang Oktober war ich mit dem „Lucerne Festival Orchestra“ unter Abbado in Tokyo. Anruf vom Konzerthaus: Das Reisebüro von Abbado verrechnet für den Privatjet von Sardinien nach Wien und zurück eine Betrag der der Hälfte des zu erwartenden Reinerlöses entsprochen hätte.
Was tun? Ich erzählte Michael Haefliger, dem Direktor des Orchesters von meinen Sorgen. Spontan stellte er mir eine großzügige Subvention in Aussicht. Auch ihm sei hier noch einmal Dank gesagt.
Es gibt aber auch Dinge, die kann man beim besten Willen nicht voraussehen:
Heidemarie Kakuska, von Beruf Flötistin und promovierte Ärztin war natürlich von Anfang an eingebunden in die Planung des Gedenkkonzertes. Keine künstlerische Entscheidung wurde ohne ihr Einverständnis getroffen. Sie war überwältigt zu sehen, welches Ansehen Thomas offenbar in der Musikwelt hatte.
Am Montag den 23. Oktober, sechs Tage vor dem Konzert, erlag sie völlig unvorhergesehen einer inneren Blutung.
Wir waren gelähmt. Kurze Besprechung mit Günter Pichler: "Wir halten fest am Konzert."
Anruf in Bologna, Rückruf von Claudio: "Claudio, heute Vormittag ist Heidi Kakuska gestorben." Schweigen – dann "was machen wir?"
Ich: "Das Konzert findet trotzdem statt".
Allmählich trafen die auswärtigen Mitglieder unseres Orchesters ein. Die allgemeine Stimmung war geprägt einerseits vom Schock über Heidis Tod und andererseits von der Euphorie über dieses Konzert, ein Ereignis von künstlerischen und menschlichen Dimensionen die uns alle irgendwie überstiegen.
Dann kam die erste Probe mit Abbado. Das Lucerne Festival hatte mir freundlicherweise das Notenmaterial für die Lieder zur Verfügung gestellt. Hundertmal hatte ich mich bei Quasthoff über die Stimmlage versichert. Doch, es wäre ja wieder ein Wunder gewesen, wenn da nicht eine Panne passiert wäre: Das Material entsprach zwar Quastoffs Stimmlage, doch ergaben sich durch Transpositionen bei den Bläsern Stimmführungen, die Abbado anders im Ohr hatte und die ihn irritierten.
Am Abend versammelten sich einige Musiker bei mir. Heime Müller – begnadeter Musiker und Arrangeur – saß am Boden zwischen Notenblättern und versuchte das Gebrechen zu beheben. Doch es schien unmöglich, Claudios Wünsche zu erfüllen. Schweren und klopfenden Herzens rief ich ihn im Hotel Imperial an - es war 10 Uhr abends - : "Claudio, wir schaffen es nicht",
er: "macht nichts, es wird auch so gehen."
Erleichtert wendeten wir uns dem Essen und dem Wein zu. Der Abend endete sehr vergnügt.
Am späten Nachmittag des darauf folgenden Samstag (am Vorabend des Konzerts) Anruf von Annette Mangold vom Konzerthaus: "Valentin, es ist das passiert, was nicht passieren durfte: das Aufnahmeteam von EMI besteht auf die Anwesenheit von Thomas Quasthoff beim Korrekturtermin am Sonntag Vormittag."
Damit schien alles gestorben. Quasthoff hatte seinen Flug Berlin – Wien für den Vormittag gebucht, die Nachmittagsflüge waren inzwischen ausgebucht. (Simon Rattles Flug am Nachmittag war schon früher gebucht worden.)
Freilich, Michael Nagy hatte sich bereit erklärt, als „Cover“ für das Konzert bereit zu stehen. Dennoch, Annette war am Nervenzusammenbruch und die Depression war allgemein!
Es gibt ja für gewisse Situationen Engel auf Erden. Ein solcher war jetzt Andreas Knapp, die „rechte Hand“ Simon Rattles und guter Freund von Annette.
Er erhielt nun die Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass Quasthoff am Sonntag Vormittag seinen geplanten Flug nach Wien antreten kann.
Noch bevor die Aufführung des Requiems von Brahms begann konnte er Quasthoff unsere Sorgen mitteilen. Dieser bat den Aufnahmeleiter zu sich: Um welche Takte geht es denn noch?“ ...
Um 23 Uhr erlösender Anruf aus Berlin: Alles im Kasten.
Professionalität, Meisterschaft und eiserne Nerven sind eben eine der Voraussetzungen für eine große Musikerkarriere!
Nun waren eigentlich alle Hindernisse ausgeräumt: Thomas Quasthoff kam zu Mittag an und wir hatten eine wunderbare Probe. Um 17 Uhr traf auch Simon Rattle ein. Doch auch dafür musste noch einmal ein Wunder geschehen: Es hatte sich nämlich am Nachmittag ein Gewitter erhoben und Simons Flugzeug war das letzte, welches noch in Wien landen konnte. Danach wurden die Flüge nach Linz umgeleitet.
Kleine Begebenheit am Rande: Bis kurz vor Konzertbeginn wurde am Podium noch geprobt. Alles war ja minutiös geplant. So kam es, dass sich Claudio Abbado und Simon Rattle plötzlich und unverhofft gegenüberstanden, zum ersten Mal seit Simons Übernahme der Leitung der Berliner Philharmoniker von Claudio.
Was in dem Moment in beiden vorgegangen sein mag, kann man wohl nur erahnen.
Das Konzert selbst zu beschreiben, ist unmöglich.
Die Kommunion zwischen dem Publikum und all den Künstlern, die gekommen waren um in Gedenken an Thomas Musik zu machen, wurde zu einem Sog, dem sich keiner entziehen konnte.
Das letzte Lied, „Du holde Kunst“ – gesungen von Thomas Quasthoff, gespielt von Freunden und Kollegen von Tomas Kakuska, unter Claudio Abbados Leitung war ein tief bewegendes Bekenntnis und wird uns allen unvergesslich bleiben.
Dank an alle, die es möglich gemacht haben.
Das Programm und alle, die mitgewirkt haben, finden Sie hier zum Download:
Epilog
Am Montag fanden sich viele von denen, die noch nicht abgereist waren, am Friedhof von Heiligenkreuz im südlichen Wienerwald ein, um Heidi Kakuska zu beerdigen.
Er gehört zum Zisterzienser Stift Heiligenkreuz und ist sehr schön idyllisch gelegen.
Katherina, das Kind von Heidi und Thomas – im Kindesalter verstorben – und Thomas selbst waren dort schon begraben.
Es war eine schlichte Zeremonie an einem strahlenden Tag im Spätherbst, in uns allen klang noch das Konzert nach.
Am Abend trafen wir uns beim Heurigen in Heiligenstadt. Der Wein und die Heurigenmusik taten das Ihrige und bald begann ein Paar nach dem anderen Walzer zu tanzen.
Man kann wohl annehmen, dass Thomas mit Heidi auf einer Wolke saß und die Beiden uns vergnügt zusahen.
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