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Bericht über meine Zusammenarbeit mit der chinesischen Tänzerin Fang-yi SHEU und ihrem Choreographen Bulareyaung

valentin mit marionetteVon je her hat der Mensch das Bedürfnis nach Verwandlung, um schöpferisch sein zu können, sich loszulösen von der Materie, die ihn am Boden hält. Ein uraltes Symbol dafür sind zum Beispiel auch die afrikanischen Masken. Hier möchte der Träger der Maske etwas scheinen, was er zunächst einmal in der Realität nicht ist.

Seit meiner Kindheit hat mich die Faszination der schier unendlichen Möglichkeiten der Puppe nicht mehr losgelassen. Und hier ist es insbesondere die Marionettenpuppe, die die Gabe hat, sich über die Begrenztheit der Materie hinweg zu heben, in eine Welt der schöpferischen Vorstellungskraft.

Die Fesseln der Materie sprengen

Von hier ist schnell der Bogen gespannt zum Tanz, insbesondere zum reinen Ausdruckstanz, der ja auch dem Bedürfnis des Menschen entspringt, die Fesseln der Materie (der körperlichen Schwere) zu sprengen und Imaginäres darzustellen. Mit höchster Energie arbeitet der Tänzer an der Beweglichkeit seines Körpers, um dann im Beschauer Assoziationen zu erwecken zu können, die ihn weit über seine materielle Welt des Alltags hinaus heben.

Unsere abendländische klassische Musik trägt natürlich sehr viele intellektuelle, geistige Elemente in sich. Dennoch ist es für mich – vor allem dann am Podium - das Märchenhafte, Zauberhafte, das mich stimuliert, den Zuhörer in meine Welt der schöpferischen Phantasie zu entführen, um ihm dort das mitzuteilen, was den Komponisten bewegt haben mag.

Einstimmungen: chinesische Lebensart

So ist es vielleicht kein Zufall, dass ich während meiner Konzertreisen im fernen Osten in Taiwan Menschen traf, die mir dort diese Welt des Tanzes näher brachten: Durch meinen ehemaligen Schüler Chang Chen-Chiéh, der inzwischen im Musikleben Taiwans eine wichtige Rolle spielt, lernte ich eine kunstsinnige Architektin kennen, die mir in großzügiger Gastfreundschaft das Haus ihrer Familie öffnete.

Ich erwähne dies, da es mir die Möglichkeit bot, Einblick in die chinesische Familientradition, in die chinesische Lebensart zu gewinnen. Wenn diese Familie auch, wie manche anderen Familien Taiwans, einen Teil Ihrer Erziehung in Amerika genossen hatte, so ist sie dennoch tief in der patriarchalischen Tradition ihres Landes verwurzelt.

Man gewinnt auch den Eindruck, dass die große alte Kultur Chinas hier in Taiwan ungebrochen fortlebt. Allein mein Besuch im Artmuseum von Taipei unter der kundigen Führung meiner Gastgeberin Sasa Ho war ein eindrucksvolles Beispiel dafür.

Auch durfte ich die traditionelle chinesische Medizin kennen lernen und bekam ein Gefühl für die jahrtausend alte Erfahrung, auf der sie aufbaut. So war ich vielleicht auch schon besser eingestimmt auf einen Kontakt mit der taiwanesischen Primaballerina Fang-yi Sheu und ihrem Choreographen Bulareyaung.

Das Rendezvous von Cello und Tanz

Fang-yi hatte den Großteil ihrer Ausbildung in New York in der berühmten Dance Company Martha Graham’s genossen. Auch heute noch unternimmt sie als Solistin Tourneen mit dieser Company. Sie gilt als eine der wenigen, die Martha Grahams Visionen realisieren. Inzwischen hat sie ihre eigene LAFA & Artists Dance Company" in Taipei gegründet.

Taiwan ist ja bekanntlich eine Hochburg des Ausdruckstanzes. Es scheint mir, dass die Chinesen ein besonderes Talent zur Beherrschung ihres Körpers haben. Allein schon die großartige Tradition der chinesischen Zirkusartisten bezeugt dies. Es geht wohl Hand in Hand mit einer Bereitschaft zur äußersten Disziplin und harter Arbeit, den eigenen Körper zu trainieren.

Zudem - und dies scheint mindestens ebenso entscheidend – verfügen die chinesischen Tänzer über eine große Intuition und leben sehr ausgeprägt in einer Welt der Sinneswahrnehmungen, die auch stark visuell ausgerichtet ist, mit einem sensiblen Gefühl für den Raum, in dem sie sich bewegen und den sie ausfüllen sollen.

Alle diese Elemente sprechen mich sehr stark an und im Laufe meiner Gespräche mit Fang-Yi entstand die Idee einer Zusammenarbeit, die meinen musikalischen Wahrnehmungsbereich erweitern und der Tänzerin eine neue Dimension ihrer Kunst bringen könnte. Gleichsam ein Nebeneinander und eine Überlagerung von Musik und Tanz.

Dabei war von vornherein klar, dass der Tanz nicht bloße "Illustration" der Musik sein kann. Musik und Tanz müssen jeweils ihren eigenen Kriterien folgen, ihre Geschichte in der eigenen Sprache erzählen, wenn sie einander inspirieren sollen. Erst auf diese Weise wird das Spektrum an Assoziationen im Zuhörer und Betrachter bereichert.

Denn selbstverständlich braucht ein solcher Dialog das Publikum. Erst dann wird er wirklich lebendig. In unserem speziellen Fall kommt noch eine reizvolle Komponente hinzu: Die Musik, um die es geht, kommt aus dem mitteleuropäischen Raum. Fang-yi und ihr Choreograph Bulareyaung kommen aus einem gänzlich anderen Kulturkreis, überdies ist ja Musik auch nicht in erster Linie ihre Ausdruckssprache. So empfangen sie Musik eher intuitiv denn verstandesmäßig, was wiederum für mich eine Quelle der Inspiration darstellt

Musik wird zu Bewegung - Bewegung inspiriert Musik

Vom ersten Moment unserer gemeinsamen Arbeit an war ich fasziniert zu spüren, wie die Musik, die ich mache, bei meiner Partnerin zur Bewegung wird!

Musik hat ja schon an sich einen stark körperlichen Aspekt: Mehr und mehr bin überzeugt, dass Musik in ihren Uranfängen aus dem Bedürfnis des Menschen kommt, sich körperlich auszudrücken. Beim Sänger ist es offensichtlich, sein Instrument ist ja der Körper. Beim Trommler ist es das körperliche Bedürfnis nach Rhythmus.

Aber auch und gerade das Streichinstrument stellt letztlich eine Verlängerung des Körpers dar: Bei der linken Hand, die die Töne greift, ist es nicht so offensichtlich, aber dennoch hat die Art, wie ich die Saite berühre, entscheidenden Einfluss auf die Klangfarbe und damit den Ausdruck, den ich erreichen möchte. Bei der Bogenführung ist es leichter erkennbar: Die Bewegung des rechten Armes, die ihrerseits körperlicher Ausdruck ist, setzt sich ja unmittelbar in den Bogen fort, der dann dem Ton Atem und Gestalt gibt.

Bei meinem zweiten Aufenthalt in Taipei, der durch das Forschungsstipendium seitens des Taiwanesischen Kultusministeriums ermöglicht wurde, arbeiteten wir nun konkret an einem Programm, das Teil einer Produktion von LaFa im nächsten Jahr sein soll. Es war ein Prozess, der zunächst nicht leicht war, da wiederum die beiden Kulturen zu sehr voneinander entfernt schienen. Es musste also ein Weg gefunden werden, zu einer Kommunikation zu gelangen, die nicht primär verbal und über den Verstand geht.

Verständigung jenseits des Verstandes

Dazu muss gesagt werden, dass die Verständigung natürlich in Englisch stattfindet. Doch ist es nicht unser beider Muttersprache. Und wer viel im fernen Osten reist, weiß, dass ein und derselbe englische Satz vom Asiaten gesprochen, nicht das selbe bedeutet, wenn ihn der Europäer ausspricht. Die chinesische Sprache ist eine Sprache der bildhaften Vorstellung, unsere Sprache ist mehr eine Konstruktion des Verstandes. Das bedeutet, dass unsere verbale Kommunikation nur mangelhaft bleibt.

So regte ich an, dass wir zu Beginn der nächsten Session, ohne viel zu reden, unser „warm up“ gemeinsam machen. Ich spielte meine täglichen Tonleiterübungen und Fang-yi absolvierte währenddessen ihre Vorübungen. So stellte sich scho gleich ein intuitiver Kontakt her: Es sind ja in diesem Moment beide mit dem Gleichen beschäftigt. Nämlich damit, aus der momentanen Befindlichkeit heraus aufs Neue mit der handwerklichen Materie umzugehen und die Sensibilität dafür wieder zu steigern. Zugleich erfasst man den Anderen durch Beobachten und lernt den Prozess näher kennen, wie er (sie) vorgeht, um das eigene Instrumentarium – hier Cello, dort Körper – zu verfeinern und zu vervollkommnen.

Als nächstes beschlossen wir, alles Erlernte einmal zu vergessen, und zu improvisieren. Ich spielte eine Musik, wie sie sich mir spontan ergab und Fang-yi überließ sich ihrem Körper.

Für mich ergab sich ein gänzlich unerwarteter Aspekt: Mir wurde plötzlich klar, dass allein der Klang des Cellos – losgelöst von jeder organisierten Musik – bereits ein Medium sein kann, mit der Tänzerin zu kommunizieren. Beim anschließenden Gespräch ergab sich, dass dies für meine Partner viel selbstverständlicher war als für mich, der – durch unsere westliche Zivilisation geprägt – hinter allen Dingen immer sofort einen intellektuellen "Sinn" sucht.

Ein Programm entsteht...

Allmählich kristallisierte sich nun eine Abfolge von relativ kurzen Sequenzen heraus von jeweils etwa zwei Minuten Länge, die dann einen Programmpunkt ergeben werden. Wir werden tatsächlich mit einem „Warmup-Stück“ beginnen – diesmal freilich organisiert. Dann folgt eine sehr virtuose Caprice für Cello solo.

Bulareyaung ist fasziniert vom Spiel meiner Finger und regt Fang-yi an, ähnliches zu versuchen. Und ich werde Zeuge von einer Pantomimenvorstellung ihrer Hände, die mich an Marcel Marceau erinnert. Darauf folgt eine Improvisation, bei der ich zunächst nur von "Klängen" ausgehe, um dann jedoch allmählich in meine Musik überzugehen – es kommen vielleicht Anklänge an Gustav Mahler und Franz Schubert, aber nur gleichsam als vorüber fliegende Visionen, die dann wieder im Klang enden, von jeder gedanklichen Assoziation losgelöst.

Interessant dabei ist der Prozess, wie eine Choreographie entstehen kann. (Selbstverständlich hat hier jeder Choreograph seine eigene Methode.) Bulareyaung hört sich meine Musik mehrere Male an. Es entstehen in ihm Bilder. Er lässt sich dabei auch, wie schon gesagt von meinen Körperbewegungen inspirieren.

Jetzt vestehe ich auch besser, weshalb er während meiner Abwesenheit von Taiwan nicht mit CDs meiner Musik auskommt, sondern ein audiovisuelles Dokument braucht. Er integriert die Bewegungen meines Körpers – insbesondere meiner Hände – in seine Bilder. Wenn diese ihm nun greifbar genug erscheinen, teilt er sie der Tänzerin mit. Und sie versucht, diese Bilder in Bewegung umzusetzen.

Er ist immer mit der Kamera dabei, modifiziert seine Vorstellungen, kritisiert Fang-yi. Ich bewundere dabei ihre Geduld, sich – als erwachsener Mensch - wie eine Schülerin behandeln zu lassen. Offensichtlich jedoch respektiert sie ihn und vertraut ihm. Beim anschließenden neuen Versuch merkt man, wie sie sich die Anregungen des Choreographen sofort zu Eigen machen kann und ihre eigene Persönlichkeit ausdrückt. Immer war und bin ich fasziniert von Fang-yis Professionalität in ihrer Kunst. Ohne jede Äußerlichkeit ist sie immer höchst konzentriert, ihre innere Wahrheit zu finden.

Es spielt sich hier ein künstlerischer Prozess ab auf höchstem Niveau, mit größter Intensität. Wenn das choreographische Konzept letztlich überzeugt und allen Zweifeln standhält, wird es mittels Kamera und auch manchen schriftlichen Notizen festgemacht und Fang-yi wird es memorisieren.

Eine wahrhaft visionäre Musik

Ein konkretes Ziel unserer diesmaligen Arbeitsphase war eine Videoaufnahme von Messiaens "Louange à l’éternitè de Jesu" aus dem "Quatuor pour la fin du temps". Dieses Stück ist für Cello und Klavier geschrieben, wobei das Klavier von Beginn bis Schluss eine sehr langsame aber stetige Abfolge von Akkorden zu spielen hat (die vorgeschriebene Metronomangabe ist 40 Schläge pro Minute!), die einerseits den unabänderlichen Ablauf der Zeit symbolisiert und durch seine Harmonien den Zuhörer in einen mystischen Zustand versetzen soll.

Das Cello trägt dazu bei, indem es einen unendlich langsamen Melodiebogen zieht, vom Ausdruck menschlichen Leidens bis hin zur Verklärung alles Menschlichen in der Einheit mit Gott. Die dynamische Spannweite bewegt sich zwischen ppp und größtmöglichem fff - eine wahrhaft visionäre Musik!

Wir machten nun das Experiment, in diesem Stück die Rolle des Klaviers durch Tanz zu ersetzen. Vielleicht ist dieser Versuch unstatthaft, schon rein aus urheberrechtlichen, vor allem aber aus künstlerischen Gründen. Ich bedauere es sehr, mit Olivier Messiaen darüber nicht mehr diskutieren zu können.

Der Klavierpart besteht hier im Wesentlichen aus drei Komponenten:

  1. Rhythmus = Einteilung und Hörbarmachen von Zeit
  2. Harmonien = Wechsel von Spannung und Entspannung, eine Dramaturgie der Emotionen wird "erzeugt"
  3. Dynamik

Die dynamischen Spannungen bereits sind im Cellopart enthalten. Die Übertragung der beiden anderen Elemente auf den Tanz kann man sich folgendermaßen vorstellen:

  • Der Tanz kann Organisation der Zeit sichtbar machen durch Einteilung des Raumes. Die Tänzerin tanzt auf einem höher gestellten Plateau, das in seiner räumlichen Beschränkung die Begrenztheit der irdischen Zeit darstellt. Das Symbol sollte hier wie dort erlebbar sein.
  • Emotionen können durch szenische Lichteffekte erzeugt werden. Auch hier ist es ein und dasselbe Symbol, nur wird der "Symbolträger" ausgetauscht.

Das Wort "Lichteffekt" erscheint vielleicht etwas oberflächlich angesichts der Tiefe von Messiaens Musik. Wer jedoch in die Welt des szenischen Tanzes eintaucht, erkennt sehr rasch die überwältigenden Dimensionen, die uns diese visuelle – um nicht zu sagen visionäre - Kunstgattung eröffnen kann. Am Ende des Stückes wird die Tänzerin vom Plateau herab steigen und nach hinten in die Unendlichkeit des Lichtes eintreten.

Ziel: Verschmelzung der Medien ohne Aufgabe ihrer Identität

Dieses Experiment steht hier stellvertretend für die Grundidee unserer Zusammenarbeit. Zunächst ausgehend von einer Erweiterung des jeweils eigenen Vorstellungsbereiches soll es zeigen, dass ein und derselbe Symbolgehalt (die "Kunst") auf verschiedenen Ebenen zugleich erkennbar gemacht werden kann. Die Konfrontation der jeweiligen Ebenen miteinander zwingen die Ausführenden, die Kriterien, um die es im Einzelnen geht, klar zu definieren. Das heißt, den dramaturgischen Aufbau der Musik einerseits und des Tanzes anderseits deutlich zu machen.

Die Verschmelzung beider Medien – ohne dass einer von beiden die Identität des eigenen Mediums aufgibt – kostet Energie und Konzentration und stimuliert den Betrachter und Zuhörer sich seinerseits zu konzentrieren – letztlich auf sich selbst und in sich hineinzuhören. So wird er erleben, dass alle Kunstgattungen letztlich ein großes Ganzes darstellen, in denen jeder Mensch – ob Kunst ausübender oder "nur" empfangender – seinen Platz finden kann.