Category Gedanken

Meine Erfahrung zeigt: Wir nehmen so viele Dinge als gegeben hin. Zum Beispiel in der Musik. Nehmen wir das Streichquintett von Franz Schubert: Schon unsere Eltern und Großeltern, wie auch unsere Lehrer sagten uns, dass das großartig sei. Und in der Tat, dann hörten wir es, spielten es zum ersten Mal und fanden es bestätigt. Es „ist“, seit langer Zeit existiert es auf Notenpapier gedruckt, festgehalten, unverändert, als ob es eben schon immer so auf dem Notenpapier gedruckt wäre. Man könnte ohne weiteres noch das Wort „großartig“ dazu drucken.

Aber es war ja nicht schon immer da, es gab ja auch eine Zeit, in der das eben noch nicht da war. Können wir uns das vorstellen?

Und noch viel unvorstellbarer: Ein begnadeter Mensch, der das in sich trug, der ein - wenn auch kurzes - Leben lang die Metaphern dafür in sich trug, und dann – noch viel schwerer vorstellbar – die Musik, diese Ausdruckswelt des Unbeschreiblichen durch Notenschrift zu Papier brachte.

Ideen hörbar werden lassen

Wir dürfen nicht vergessen, dass die Notenschrift, wie wir sie heute kennen, ja ziemlich armselig dürr ist im Vergleich zu dem, WAS sie ausdrückt. Die Gedanken des Schöpfers werden reduziert in Notenschrift und werden erst durch die Realisierung des Musikers zum Klingen gebracht um im Zuhörer das zu erwecken, was der Komponist mitteilen möchte.

Aber was geht im Kopf des Komponisten vor, dass es überhaupt zu so einer "Ausschüttung" seines Innersten kommt, und welche Disziplin muss er bei all dem aufbringen, um es in die Notenschrift zu "kanalisieren". Wir alle wissen, eine Idee zu haben ist leicht, aber sie real werden zu lassen...?

Johann Nestroy, das dichterische Pendant zu Schubert, spricht in "Die Höllenangst" über seine Geburt, die er im Übrigen "für verfehlt" hält:

"Solange ich noch ein Traum meines Vaters, eine Idee meiner Mutter war, da kann ich recht eine scharmante Idee gewesen sein. Aber so viel herrliche Ideen haben das: wenn’s ins Leben treten, wachsen sie sich miserabel aus."

Schubert jedoch schaffte es, seine Idee hörbar werden zu lassen. Und nun hat er in den etwa zwei letzten Monaten seines Lebens nicht nur das Quintett geschrieben, sondern auch die drei sogenannten großen Klaviersonaten.

Ich denke, wenn man sich so etwas lebendig vor Augen führt, das heißt wenn man sich das Leben eines solchen Menschen bewusst macht, ja dann kommt zu dem abstrakten, zeitlos Gültigen dieser Musik noch ein zutiefst menschlicher Aspekt hinzu.

Wenn wir schon beim Quintett sind: Nehmen wir im 3. Satz, dem Scherzo, den Beginn des Trios.

Wer kann mit Sicherheit sagen, in welcher Tonart dieses Thema beginnt? Das Scherzo endete in C-dur. Das Trio beginnt mit "C". Ist es C-dur? Ist es As dur ? Ist es f-moll ? Während wir uns noch beim Hören (bewusst oder unbewusst) diese Frage stellen, sind wir aber bereits in Des-dur angekommen.

Harmonien stehen ja meist – jedenfalls sicherlich bei Schubert – für das Psychogramm eines Menschen. Aus dem strahlend hellen C-dur sind wir in kürzester Zeit tief in düsteres Des-dur getaucht, und in der Folge stürzen wir immer tiefer, landen schließlich in Deses Dur.

Ein kompositorischer Taschenspielertrick, die enharmonische Verwechslung nach C-dur – und wir sind wieder beim Da capo des Scherzos.

Die Wirkung, die Schubert hier erreicht: Der Mensch durchwandert, durchlebt Abgrund für Abgrund, um am Ende wieder am Ausgangspunkt anzukommen. Grade, als hätte er die Erde umwandert. Er ist wieder zurück, wird aber nie wieder der Mensch sein, der er vorher war.

Es geht hier nicht darum, Schuberts Musik zu "vermenschlichen", sondern ich glaube, seine Musik ist tiefster Ausdruck seiner Menschlichkeit.

In dem Maß, in dem wir ihn als Mensch besser kennenlernen, mag uns seine Musik lebendiger werden, kein gedrucktes Klisché, sondern rauhe, bewegliche Oberfläche alles Lebendigen.