Kunst hat den Aspekt von Können und Kunstfertigkeit. Zugleich gibt es aber auch das Element des Ungreifbaren, Visionären, Genialen, das jeder Mensch in sich trägt. Der schöpferische Künstler erlebt es bewusst, verleiht ihm Gestalt und wird es mit Hilfe seiner Kunstfertigkeit mitteilen – sei es als Maler, Bildhauer, Architekt, Schriftsteller oder Komponist. Dabei kleidet er seine schöpferische Idee in eine klar bestimmte Form: gleichsam das Vehikel, um das verstandesgemäß Ungreifbare mitzuteilen.
Das Unbewusste im Menschen erreichen
“Der kleine Prinz” von Antoine de St. Exupéry erscheint uns zunächst als eine einfache Erzählung. Doch die Erfindung des imaginären kleinen Titelhelden eröffnet uns Dimensionen von Leben, Liebe und Tod, die weit über das Aussprechbare hinausgehen.
Die Pointe eines guten Witzes liegt im Nichtausgesprochenen: Durch eine geschickt aufgebaute Erzählung erleben wir völlig überraschend und daher ohne innere Abwehrmöglichkeit die absurden und lächerlichen Seiten des Lebens oder – vornehmlich im jüdischen Witz – auch die Widersprüche, Doppelbödigkeiten und Abgründe der menschlichen Existenz. Dies geschieht mit einer Unmittelbarkeit, die mit direkten Worten nie zu erreichen wäre.
Im Märchen wird das Kind durch eine phantastische Erzählung ins Reich des Unbewussten hinab (oder hinauf) geführt und erlebt dort urmenschliche Symbole, die es mit dem Verstande nie begreifen könnte. Frau Holle, Hänsel u. Gretl, Faust…
Vielleicht hat es die Musik noch leichter, das Unterbewusste im Menschen zu erreichen, da sie – mehr als es mit Hilfe des Wortes möglich ist – nicht nur den Geist, sondern auch die Sinneswahrnehmungen anspricht. Und wie das Märchen seine Wirkung erst entfaltet, indem es erzählt wird, so ist in der Musik die Rolle des Erzählers, des Interpreten ohnedies ein unabdingbarer Teil des Geschehens und fügt dem Medium eine weitere Dimension hinzu.
Auch die Musik bedarf also einer Art Erzählung, um das Unaussprechbare hörbar und erfühlbar zu machen, und die Erzählung unterliegt hier wie dort definierbaren Gesetzen. (Ich spreche hier im Wesentlichen von unserer westlichen, „klassischen Musik“ wie sie seit der Zeit des Barock geschrieben wird.)
Die Erzählung – im Text und in der Musik
Wir lernen in der Schule, dass die Erzählung einen Aufbau haben muss. Es werden z.B. zuerst die handelnden Personen vorgestellt, ihre Charakterzüge beschrieben, sie werden zueinander in Beziehung gesetzt, es treten naturgemäß Konflikte auf, die schließlich einer Lösung zugeführt werden. Je interessanter und vielschichtiger dies dargestellt wird, desto spannender, ansprechender wird die Erzählung und umso größeren Reichtum an Gedanken, Assoziationen und Gefühlen wird sie im Leser auslösen.
In der Musik ist eine der klassischen Grundformen der sogenannte Sonatenhauptsatz, der sich in drei Teile gliedern lässt:
- In der Exposition werden zwei Themen verschiedenartiger Charakteristik, z.B. in Melodieführung, Dynamik, Lautstärke, rhythmischer Struktur usw., einander gegenübergestellt. In jedem Fall stehen sie in unterschiedlichen Tonarten, die ihrerseits jedoch stets einen engen harmonischen Bezug zueinander aufweisen (wir werden später noch auf das Wechselspiel verschiedener Harmonien als wichtiges dramaturgisches Mittel zurückkommen). In solchen „Keimzellen” zeigt sich auch der Einfallsreichtum des Komponisten. Die melodische und/oder rhythmische Zusammensetzung von Tönen erzählt uns über die geistige und emotionale Landschaft, in der wir uns befinden. Zumal in der Musik der Romantik können wir uns oft tatsächliche Naturbilder vorstellen. Oder es handelt sich um abstrakte Gedanken wie z. B. rechnerische Spiele mit verschiedenen Intervallen, die ihren Konterpart (das zweite Thema) zu einer Konfrontation herausfordern.
- Die unterschiedlichen Charaktere der beiden Themen bilden nun den “Zündstoff” für den zweiten Teil, die Durchführung. Die Themen geraten in Konfrontation zueinander, werden in ihre strukturellen Bestandteile zerlegt und miteinander verwoben, sie erfahren motivische, harmonische oder rhythmische Veränderungen. Man mag diesen Vorgang mit dem Psychogramm, oder der Psychoanalyse eines Menschen vergleichen, der einen Konflikt mit sich selbst austrägt.
- Die Reprise, die Wiederholung der Exposition, stellt einerseits ein formales Gleichgewicht her, inhaltlich aber vermag sie Gefühle wiederzugeben, wie sie einer empfindet, wenn er nach einer langen Reise, nach inneren oder äußeren Kämpfen wieder nach Hause und zu sich selbst findet: Er trifft auf Vertrautes und sieht es doch in einem anderen Licht. Auch der Hörer, der über kein musiktheoretisches Wissen verfügt, wird die Wiederkehr der Themen anders als in der Exposition erleben. Das erste Thema hat dabei seine Tonart beibehalten, im zweiten jedoch ist sie verändert und dem ersten angenähert worden. Um bei unserem Sinnbild zu bleiben: Der Reisende hat seine Eigenart bewahrt, dennoch hat der Lebenskampf Spuren hinterlassen.
Dies ist freilich nur eine von vielen musikalischen Formen, derer sich der Komponist bedient, um etwas auszusagen. Und er wird sich immer diejenige auswählen, die dem künstlerischen Inhalt entspricht; für eine heitere, kurzweilige Erzählung z. B. das Rondo. All diese Formen erfahren im Lauf der Musikgeschichte Entwicklungen und Veränderungen. Manche verschwinden ganz und werden durch neue ersetzt.
Die Dimension der Zeit
Ein weiterer, ebenso wichtiger Bestandteil der musikalischen Darstellung ist der Umgang mit der Zeit im Verlauf des Stückes. Und hier kommt wiederum dem Tempo eine entscheidende Bedeutung zu (bezeichnenderweise ist “Tempo” ja das italienische Wort für Zeit). Das Tempo bestimmt nicht nur die Dauer, sondern in hohem Masse auch den Charakter des Musikstückes. Es ist wie ein Puls, und der Zuhörer reagiert – wenn auch oft unbewusst – sehr sensibel darauf, da er es in Beziehung zu seinem eigenen Puls erlebt.
Bis zur Zeit Beethovens hatten die Komponisten nur allgemeine Bezeichnungen zur Verfügung wie Allegro, Presto, Andante, Largo usw. Allerdings gab es unter den Musikern auch eine klare Übereinkunft darüber, wie schnell z.B. ein Allegro mit einer bestimmten rhythmischen Struktur eben zu spielen sei. Ein Komponist wie Beethoven kam jedoch mit diesen “Prototypen” nicht mehr aus. So war es vielleicht kein Zufall, dass gerade in dieser Zeit das Metronom erfunden wurde, das dem Komponisten die Möglichkeit gibt, ein Tempo präzise nach seinen subjektiven Vorstellungen festzusetzen. Da aber Musik etwas Lebendiges ist und sich nicht rechnerisch festlegen lässt, wird es immer Diskussionen über das “richtige” Tempo geben; eine Tatsache, die freilich die Wichtigkeit dieses musikalischen Elements beweist.
Blicke in die Komponistenwerkstatt
Wir sitzen im Konzertsaal oder in der Oper oder daheim vor dem Lautsprecher: Wir verbringen ein Stück Lebenszeit – ein unwiederbringliches Stück Lebenszeit – mit dem Hören von Musik. Der Komponist hat unter anderem durch kunstvolles Handhaben des Tempos die Möglichkeit, diese Zeit zu gestalten: Wir erleben sie rasch, bewegt oder erregt, ruhig oder so langsam, dass wir die Spannung kaum ertragen. Wir erleben den wohltuenden Rhythmus eines Tanzes, die Panik eines jagenden Presto …
In der klassischen Sonate oder Symphonie ist der erste Satz meist rasch. Es folgt ein langsamer Satz, dann ein Menuett oder Scherzo und schließlich ein schneller Schlusssatz. Ein rascher Satz kann mit einer langsamen Einleitung beginnen. Das Tempo kann aber auch innerhalb des musikalischen Ablaufes eine Änderung erfahren, z.B. durch ein Ritenuto, ein Innehalten, oder ein Accelerando, um etwa eine rasante Schlusswirkung herbeizuführen. Wenn wir einen genaueren Blick in die Komponistenwerkstatt werfen, erkennen wir die zeitlichen Proportionen, in denen sich das Gestalten durch Tempo abspielt, als Instrument der Dramaturgie: unendliche Möglichkeiten des Gestaltens und Erzählens und damit des Vermittelns von Gefühlen und Vorstellungen.
Dynamik / Lautstärke
Doch damit nicht genug. Ein weiteres kompositorisches Mittel ist die Dynamik, die Lautstärke, in der gespielt wird. Hier gibt es ein weites Spektrum zwischen sehr laut und sehr leise mit den entsprechenden Auswirkungen auf das Gemüt des Hörers. Auch die verschiedenen „Klangfarben“ kommen hinzu, mit welchen man den Ausdruck unendlich differenzieren kann, vergleichbar der breiten Ausdruckspalette im Vortrag eines Schauspielers.
In viel höherem Masse, als es den meisten Zuhörern bewusst sein kann, liegt der Musik auch hier ein wohl durchdachter Plan des Komponisten zugrunde: An welcher Stelle setzt er ein Piano, wo ein Forte, wo ein Crescendo oder Diminuendo? – Und wiederum: Wie wird dieses Ausdrucksmittel in den zeitlichen Ablauf eingebaut? Wie lange wird das Pianissimo gehalten, wird das folgende Crescendo allmählich aufgebaut oder erfolgt es plötzlich? Mündet das Crescendo anstatt ins erwartete Forte in ein unvermitteltes Piano? Ist die Rede von einer Welt ohne Widersprüche oder sollen Konflikte dargestellt werden?
Der harmonische Plan: Dur, Moll, Farbe
Ein weiterer, ganz wesentlicher Bestandteil der “Architektur” eines Musikstückes ist sein harmonischer Plan. Ich habe schon vorher erwähnt, dass die “Persönlichkeit” verschiedener Themen insbesondere auch durch ihre Tonart definiert wird. Jedermann wird eine Dur-Tonart als etwas strahlend Positives, das Moll als traurig, schwermütig oder auch tragisch erleben. Man stelle sich nur den Beginn der 5. Symphonie von Beethoven in C-Dur vor!
Die Dur- bzw. Molltonarten unterscheiden sich aber auch untereinander in ihren “Farben”; dieses Wort wird in der musikalischen Fachsprache gerne benützt, um Nuancen des klanglichen Ausdrucks zu benennen. (Es gibt Theorien, die die verschiedenen Tonarten in ihrem Stimmungsgehalt in Bezug zu den Farben des Malers setzen.) Die “Kadenz” stellt in der klassischen Harmonielehre eine ganz bestimmte Akkordfolge dar, die die Dominanz einer Tonart bestätigen soll. Der Komponist bedient sich einer solchen Kadenz, um z.B. eine überzeugende Schlusswirkung herbeizuführen.
Hermann von Helmholtz, Physiker und Physiologe im 19. Jahrhundert, untersucht in seiner “Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik” die Wirkung von Tönen, Zusammenklängen und ihren Schwingungsverhältnissen auf den menschlichen Organismus. Demnach empfinden wir gewisse Tonfolgen als wohltuend, andere versetzen uns in Unruhe oder lösen Agressionen aus: ein nahezu unbegrenzter Ausdrucksbereich zwischen Spannung und Entspannung.
Mit Hilfe der “Modulation”, des sinnvoll geführten Übergangs zwischen den Tonarten, nimmt uns der Komponist an der Hand und führt uns von einem Bild zum anderen, einmal hinauf zu lichten Regionen, einmal hinab in den Abgrund der Trauer und Depression. Er hat die Möglichkeit, einen Stimmungswechsel vorzubereiten oder ihn ganz plötzlich zu vollziehen. Auch hier kommt den zeitlichen Proportionen eine wichtige Rolle zu.
Sprache der Musik: Franz Schubert, Richard Wagner
Kann es sich der Komponist womöglich einfacher machen in Musikgattungen wie dem Lied oder der Oper, in denen das gesprochene Wort die Basis des Erzählens bildet? Sicherlich nicht! Das Stück wird nur dann als Kunstwerk gelten dürfen, wenn der Komponist das dramatische Geschehen gänzlich in seine Elemente auflöst und mit Mitteln, von denen ich einige zu veranschaulichen versucht habe, in die Sprache der Musik überträgt.
Als “Kronzeugen” dafür möchte ich beispielsweise die Lieder von Franz Schubert anführen: Seine musikalische Auslegung der Texte berühren unser Innerstes, eröffnen uns Dimensionen menschlicher Erlebnisfähigkeit, wie es viele der Texte allein niemals zu Stande bringen könnten. Vielleicht bedarf es überhaupt erst des Mediums der Musik, um uns diese Bereiche zu eröffnen.
Richard Wagners Oper “Tristan und Isolde” ist wohl nicht nur in der zeitlichen Ausdehnung eines der monumentalsten Werke der Gattung. Dramaturgisch geht es um Liebe, die vergebens um Erfüllung ringt und erst im Tode Erlösung findet. Was geschieht dabei musikalisch?
Das Leitmotiv, welches die Basis für das ganze Werk bildet, besteht aus einer Kombination von zwei Akkorden, die ihrer Natur nach zur Auflösung strebend wieder in eine neue Dissonanz münden. Ewig unerfüllte Sehnsucht! – Das Vorspiel beginnt aus dem Pianissimo heraus mit einem Ton der Celli, der sich erst allmählich entwickelt. Kein Weltenbeginn mit Urknall, sondern ein Entstehen, sich Wandeln, wieder Vergehen, und aus dem Vergehen erneutes Entstehen: Vergebliches Ringen, die Liebe in der Wirklichkeit leben zu dürfen. –
Und zu spät: erst nachdem Tristan seinen seelischen und körperlichen Wunden erlegen ist, kommt Markes königliches Verstehen und Verzeihen. Wenn Isolde, den Liebestod sterbend, über Tristans Leichnam niedersinkt, hören wir wieder jene Akkorde, die uns von Anfang an in verschiedensten Gewändern begleitet haben. Dann plötzlich eine unscheinbare Wendung in einer Stimme, die wir bis dahin nicht für möglich gehalten hätten … und alle irdischen Schmerzen, alle Dissonanzen lösen sich auf in einem überirdisch erklingenden H-dur. Alle menschlichen Bürden, ungelösten Fragen finden im Tod ihre einfachste und wahrhaftigste Lösung. (Der “Kleine Prinz” fragt die Schlange: Warum sprichst Du immer in Rätseln? – Sie antwortet: Ich löse sie alle …)
Selbstverständlich ist diese geniale Oper viel komplexer als hier dargestellt; viele Bücher sind über sie geschrieben worden. Der hier beschriebene Aspekt scheint mir jedoch ein gutes Beispiel dafür zu sein, wie ein Komponist – so er denn Genie hat – musikhandwerkliche Mittel des Erzählens einsetzt, um Dinge mitzuteilen, die weit über das verstandesgemäss Mitteilbare hinausreichen.
Von der Meisterschaft der Komponisten
Es bleibt an dieser Stelle einem großen Missverständnis vorzubeugen: Keinesfalls darf man die schöpferische Welt der Musik auf das mit Worten Beschreibbare reduzieren. Es ist hier bloß von den handwerklichen Mitteln die Rede, derer sich der Komponist bedient, um seine künstlerischen Visionen zu konkretisieren. In der Vollkommenheit der Handhabung dieser Mittel – immer im Dienste seiner Vision – darin liegt die Meisterschaft des Komponisten.
Dem “Interpreten” – ich benutze dieses Wort nur ungern, da gerade hier die Gefahr des Missverständnisses liegt, der Musiker dürfe die Mitteilung des Komponisten auf dem Niveau seiner eigenen geistigen und künstlerischen Fähigkeiten “interpretieren”, wo wir doch im Gegenteil davon ausgehen müssen, dass uns die großen Komponisten in ihrer Phantasie und Vorstellungskraft höchstwahrscheinlich weit überlegen sind – treffender also: dem Musiker obliegt es, mit all seinem Können, seinem Wissen, seiner Integrität, seiner Intuition und mit dem vollen Einsatz seiner Persönlichkeit die Elemente des Erzählens, wie sie ihm durch die Notenschrift mitgeteilt werden, zum Erklingen zu bringen. Er wird selbst zum Erzähler.
Und hier liegt natürlich ein Widerspruch: Der Musiker muss sein ganzes Wesen einbringen, um es dem Werk unterzuordnen! Es entsteht ein Spannungsfeld zwischen der schöpferischen Kraft des Komponisten und der Persönlichkeit des Erzählers (Diderot hat dieses Phänomen in seinem Buch “Le Paradoxon du Comédien” meisterhaft behandelt). Je besser es dem Erzähler gelingt, hier eine Balance zu halten, desto mehr Leben und Sprengkraft werden die erzählerischen Elemente entfalten. In diesem Masse werden sie im Hörer Assoziationen wecken und Gefühle auslösen. Er wird sein Innerstes erleben. Und dies so weit, wie er bereit ist, sich der Botschaft der Musik zu öffnen.
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